Vom Smartphone zur Smart Factory

Die Fabrik der Zukunft steht in den Startlöchern: Über das Internet steuert sich die Produktion selbst. Die deutsche Industrie erwartet effizientere, schnellere und flexiblere Arbeitsabläufe

Das Szenario klingt utopisch und fast ein bisschen gespenstig: Das elektromechanische Antriebssystem für eine Druckmaschine ist intelligent und produziert sich, von der ersten bis zur letzten Fertigungsstufe, quasi selbst. Das ist möglich, weil es weiß, wie es am Ende aussehen soll, auf welcher Prozessstufe es jeweils steht, wie es konfiguriert ist und wann es sein Benutzungsverhalten wie ändern muss, um zum nächsten Produktionsschritt zu gelangen. Dabei kommuniziert das künftige Antriebssystem via Internet permanent mit den ebenso intelligenten Komponenten der Fertigungsstraße, die sich ebenfalls in Echtzeit untereinander austauschen können. „Industrie 4.0“ heißt die radikale Vision, die den Industriestandort Deutschland komplett umkrempeln soll.

Nach der Mechanisierung mittels Wasser- und Dampfkraft, der Massenfertigung auf Fließbändern sowie der Nutzung von Elektronik und Informationstechnologie zur weiteren Automatisierung der Produktion steht jetzt also die „vierte industrielle Revolution“ in den Startlöchern. Über das Internet soll sie die physische und die digitale Welt zusammenführen. Die dafür benötigten Technologien sind noch vergleichsweise jung und kamen erstmals in Smartphones zum Einsatz. „Die kleinen Hochleistungscomputer stellen uns Dienste zur Verfügung, die darauf basieren, dass wir im Internet große Datenmengen aus den unterschiedlichsten Bereichen sammeln, analysieren und oft kontextbasiert auswerten“ sagt Frank Riemensperger. Der Informatiker ist Deutschland-Chef der Unternehmensberatung Accenture und leitet gemeinsam mit dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften, Henning Kagermann, den Arbeitskreis „Internetbasierte Dienste für die Wirtschaft“.

Was das Smartphone heute schon kann, wird die Smart Factory in absehbarer Zeit auch können. Davon sind nicht nur Fachleute wie Riemensperger und der ehemalige SAP-Vorstandssprecher Kagermann überzeugt. An der Realisierung dieses Quantensprungs arbeiten sowohl die produzierende als auch die IT-Industrie mit Hochdruck. Zu den Vorreitern gehören beispielsweise Bosch und Siemens, aber auch mittelständische Unternehmen wie die Wittenstein AG, einer der führenden Hersteller von elektromechanischen Antriebssystemen. Im schwäbischen Fellbach hat die Wittenstein-Gruppe bereits eine Produktionsstätte der Zukunft in Betrieb genommen. In dieser „Schaufensterfabrik“ sollen nach und nach exemplarisch einzelne Konzepte von Industrie 4.0 integriert sowie in Maschinen und Anlagen umgesetzt werden.

Zu den Pionieren der Realisierung der vierten industriellen Revolution zählt auch das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. In Zusammenarbeit mit Siemens und weiteren 20 Partnern aus Industrie und Forschung hat das DFKI eine Smart Factory-Pilotanlage errichtet, die demonstriert, wie intelligente Produkte mit intelligenten Produktionsstraßen kommunizieren. Auf der Anlage werden beispielsweise noch unbefüllte Seifenflaschen mit einem Funketikett, einem sogenannten RFID-Tag, ausgerüstet. Darüber teilt die Seifenflasche der sie produzierenden Maschine mit, ob sie gerade einen weißen oder einen schwarzen Verschluss benötigt. Dieses Beispiel zeigt, dass bereits ein Rohling von Anfang an über ein digitales Produktionsgedächtnis verfügen, über Funk mit seiner Umgebung kommunizieren und damit die reale mit der virtuellen Welt verbinden kann.

Mit der drahtlosen Steuerung der Entwicklung und der Produktion über das Internet verbindet die deutsche Industrie große Erwartung an wesentlich effizientere, schnellere und flexiblere Arbeitsabläufe bis zu einer Halbierung der Durchlaufzeit. „Der Trend geht ganz klar hin zu individualisierten Produkten und kleineren Losgrößen, die in einer Massenfertigung zu vernünftigen Preisen angeboten werden können“, sagt Frank Riemensperger. Selbst Einzelstücke ließen sich auf diesem Weg rentabel herstellen, weil sich die Maschinen analog zum Fertigungsbedarf selbstständig umrüsten und die Technologiedaten anpassen können.

Wann die erste Smart Factory ihre Produktion aufnehmen wird, vermag derzeit nie-mand genau zu sagen. Optimistische Prognosen gehen von zehn, konservative eher von 20 Jahren aus. Einig sind sich alle Beteiligten indes, dass die Umstellung von der bisher zentral gelenkten auf eine sich selbst steuernde Produktion gewaltige Investitionen erfordert, die selbst Großkonzerne nicht von heute auf morgen stemmen können. Viel Geld wird auch in ein flächendeckendes und sicheres Superbreitbandnetz mit einer hohen Verbindungsstabilität fließen müssen. „Wenn wir globale Wertschöpfungsnetze etablieren, müssen auch Produzenten auf der Schwäbischen Alb oder in Vorpommern mit einem Industrie-Internet erreicht werden können“, lautet eine entsprechende Forderung des Hightech-Verbandes BITKOM.

Unterdessen diskutieren Gremien wie der Arbeitskreis „Internetbasierte Dienste für die Wirtschaft“ auch darüber, welche neuen Geschäftsmodelle sich mit Produkten schaffen lassen, die nach dem Verlassen der Fabrik über das Internet in Kontakt mit dem Hersteller bleiben. Maschinenbauer könnten so beispielsweise kontinuierlich erfassen, wie Kunden ihre Anlagen nutzen und ihnen auf der Basis dieser Datenanalyse eine verbesserte Steuerungslogik verkaufen, die mehr aus den Maschinen herausholt, indem sie etwa den Verschnitt senkt. „Im Gegensatz zum Anwender steht der Hersteller möglicherweise permanent weltweit mit Tausenden oder Zehntausenden solcher Maschinen in Kontakt und kann deshalb Daten auswerten, die der Kunde nicht hat“, sagt Accenture-Chef Frank Riemensperger.

Ein beträchtliches Potenzial für neue Geschäftsmodelle, für die es bis vor wenigen Jahren noch keine Technologie zu vertretbaren Kosten gab, sieht Riemensperger auch auf dem Gebiet der Medizintechnik. Beispielsweise für kommunizierende Röntgengeräte, die immer wieder dieselben Krankheitsbilder aufnehmen, die daraus gewonnenen Daten über einen langen Zeitraum analysieren und daher zu wesentlich exakteren Diagnosen führen könnten. Autofahrer könnten ebenfalls von der industriellen Revolution profitieren, in dem sie während der Fahrt von Assistenzsystemen aktiv gecoacht werden. Deutschland hat nach Überzeugung des Accenture-Chefs gute Chancen, in der Industrie 4.0 den Part eines Global Players zu übernehmen: „Komplexe und intelligente Produkte sind für uns ja nichts Neues – und die deutsche Industrie hat auch gelernt, wie diese Produkte in intelligenten Netzen funktionieren.“

Veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Zeitung